Das kleine schwarze Fischlein – Leseprobe 1

Sara Sadeghi

Den mutigen Liebenden.
Den tapferen, freidenkenden, schwarzen Fischen,
die für ihre Werte und Vorstellungen
sowie für die Freiheit und Gerechtigkeit kämpfen.
Und allen Menschen, die ein Teil meines Lebens waren
und mir mit ihren Geschichten geholfen haben,
meine eigene Legende zu schreiben
.

VORWORT
Früher war ich klug und wollte die Welt ändern,
heute bin ich weise und ändere mich selbst.
Rumi


Zum Korrekturlesen und Editieren meines Buches kaufte ich mir eine Software für Autoren. Bei der Stilanalyse wurde unter anderem das Wort Liebe(n) überall durchgestrichen und mir wurden Wortvorschläge gemacht: Pimpern, den Lachs buttern, ficken, ein Rohr verlegen, bumsen, schnackseln, rammeln und dreißig weitere Ausdrücke der gleichen Familie. Nun, wenn den Autoren ein solcher Wortschatz vorgeschlagen wird, den sie in ihren Büchern ausbreiten sollten – was erwarten wir von unserem Nachwuchs?

In den Rotlicht-Milieus wird von käuflicher Liebe gesprochen. Wenn wir die Begriffe Liebhaber und Geliebte hören, denken wir nicht mehr an Menschen, die lieben und geliebt werden, sondern an zwei Personen, die eine Sexaffäre haben und womöglich ihre Partner betrügen. Es gab Predigten von gewissen Menschen, die von einer Entvölkerung als der Rettung für die Erde gesprochen haben. Da steht einer auf der Bühne und sagt auf gut Deutsch: Ihr müsst sterben, damit die Welt überlebt. Und wird von den Zuschauern applaudierend gefeiert. Wo bleiben die Selbstliebe, die Selbstachtung und das Selbstwertgefühl? Das sind Symptome einer zutiefst verseuchten Gesellschaft, in der die Liebe vom Aussterben bedroht ist.

Ich finde es bedauerlich, dass wir in einer Zeit leben, in der unsere Technologie und Wissenschaft zwar so weit entwickelt sind, dass wir bald nicht mehr auf Mallorca oder nach Indien fliegen, um Urlaub zu machen, sondern direkt zum Mars. Dass wir uns in Sachen Liebe aber gleichzeitig so weit zurückentwickelt haben, dass wir bald von den Tieren etwas lernen könnten. Haben wir da nicht etwas gehörig missverstanden? Ich finde es traurig, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der es über dreißig Begriffe für Geschlechtsverkehr gibt, während das einzige Wort, welches die Liebe wiedergeben sollte, missbraucht und ausgenutzt wird. Ist Liebe eine Ware zum Handeln? Ist Sex alles, was mit Liebe in Verbindung kommt? Was ist mit der zwischenmenschlichen Liebe, die ohne jegliche Erwartungen auskommt, was ist mit der
Selbst- und Nächstenliebe? Verändern wir nichts im Inneren, werden wir, nachdem wir die Erde erfolgreich ruiniert haben, unsere Zerstörungsarbeit galaxienweit fortführen und auch andere Planeten vernichten und verseuchen. Und mal ehrlich: Was haben wir überhaupt auf
dem Mars zu suchen, während wir das Leben auf der Erde nicht einmal im Griff haben?

In einer Welt, in der die Liebe längst am Horizont verschwunden ist, brauchen wir uns nicht mehr über das Fehlen des Lichtes zu wundern, das sich in Form von Amokläufen, Vergewaltigungen, Gewalt, Morden, Kriegen, Selbstmord, Süchten, Depressionen, Aggressionen, Krankheiten und Ängsten zeigt, aus denen dann Rassismus, Faschismus, Sexismus, Idealismus, Perfektionismus, Terrorismus und weitere -ismen entstehen. Da, wo es keine Liebe und kein Licht mehr gibt, herrscht die Finsternis.

Durchbrechen wir diesen Teufelskreis. Teilen wir unsere Liebe miteinander, solange wir atmen. Trauen wir uns, zu leben und zu lieben, bevor wir sterben. Der Tag wird schneller kommen als erwartet und Reue hat noch nie den Tod von seinem Vorhaben abgehalten. Von den Tränen auf dem Grabstein hat niemand etwas, außer vielleicht die Blumen auf dem Grab.

Durch das Schreiben dieses Buches habe ich gelernt, dass es auf jeden von uns ankommt. Wir dürfen und sollten die Liebe in uns selbst und zu anderen aus der Tiefe wiederbeleben. Du und ich. Wir alle sind dazu aufgerufen. Es ist die höchste Zeit.

Möge dieses Buch dazu dienen, einen anderen Raum für die Liebe zu eröffnen, sie in uns drinnen wiederzubeleben. Denn dort ist sie – seit Anbeginn – vorhanden. Die freie, bedingungslose Liebe, die alle Menschen umschließt, die weder erarbeitet noch geleistet werden muss, sondern ist. Die göttliche Liebe, aus der wir geboren sind und zu der wir zurückkehren. Denn nur in dieser Liebe finden wir unseren wahren Frieden und unsere Heimat.

Wir Menschen bestehen nur bis zu 2 % aus Materie und 98 % aus Geist. So viel Aufmerksamkeit, wie wir dem zweiprozentigen Teil geben, schenken wir leider dem achtundneunzigprozentigen Teil nicht. Wir achten auf unsere Nahrung, die Kleider, die wir tragen, auf unseren Körper und dessen Hygiene – damit er fit ist und gut aussieht – und
schützen uns mit aller Gewalt vor Krankheiten oder vor dem Altern. Wir kümmern uns darum, dass wir ein schönes, sauberes Haus bewohnen und eine geile Karre fahren. Hauptsache, wir scheinen nach außen. Aber nur selten bis nie achten wir darauf, womit wir unseren Geist füttern und schmücken. Dann wundern wir uns, dass wir trotz der „guten“ Ernährung, dem Verzicht auf Alkohol und Zigaretten und den langen Stunden im Fitnessstudio körperlich krank werden. Es ist der Geist, der den Leib erschafft. Das wissen die meisten in der Theorie, aber nur selten bis nie habe ich Menschen getroffen, die diese Philosophie in Praxis umsetzen.

Eine der größten Ängste, die ich bei der Menschheit beobachtet habe, ist – neben der Angst vor dem Unbekannten und dem Tod – die Angst davor, Fehler zu machen oder zuzugeben, je welche gemacht zu haben. Natürlich – wer will schon als ein Versager dastehen, während
scheinheilige Perfektion der neue Trend ist? Du suchst einen Job und das erste, was sie von dir wissen wollen, ist, ob du Erfahrungen hast. Wenn nicht, dann stehen die Sterne ungünstig
für dich. Und aus der Angst heraus, „Fehler“ zu machen, wagen es die meisten Menschen erst gar nicht, etwas Neues auszuprobieren oder ihre Komfortzonen zu verlassen. Eine der interessantesten Beobachtungen, die ich in meinem Leben gemacht habe, ist, dass die meisten Menschen lieber Probleme haben als Lösungen. Dann jammern sie einem die Ohren voll mit ihren Schwierigkeiten und ihnen wird eine neue Tür zur Besserung geöffnet, sie finden aber unzählige Ausreden, warum sie da nicht hindurchgehen können. Wieso?, fragte ich mich eine geraume Zeit, bis mich die Antwort erreichte: Es ist viel leichter, altbekannte Wege zu gehen, die Glaubenssätze der Familie, kollektive unbewusste Muster und daraus resultierende Probleme zu wiederholen, zu jammern und sich selbst zu bemitleiden und die äußeren Umstände sowie andere Menschen für die eigene chaotische Situation verantwortlich zu machen, als den Mut zu fassen, neue Wege einzuschlagen und die Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, auf die Gefahr hin, Fehler zu machen. Solange es Probleme gibt, gibt es auch ein Gesprächsthema. Ein friedvoller Alltag würde nicht so viel zum Reden anbieten. Beobachtet eure Umgebung etwas bewusster und schaut, worum es sich – vom Lästern abgesehen – in den meisten Gesprächen dreht.

Wir kommen auf diese Welt und es gibt schon einen Plan für uns. Du wächst vor dich hin, im Rahmen der Muster, die deinem Umfeld für dich dienlich erscheinen … Dann wirst du eingeschult, ob du es willst oder nicht; es gibt keine andere Option für dich. Es gilt die Schulpflicht und die Schule macht schlau. Du willst doch nicht dumm bleiben, oder? Dann lernst du zehn oder dreizehn Jahre lang Dinge, die dich kaum interessieren und dein Leben in keiner Weise beeinflussen. Interessiert dich das Zeug nicht? Egal! Lerne blind und auswendig, sodass du irgendwie einen Abschluss bekommst; wenn nicht, hast du keine Zukunft. Du darfst ab und zu weiter jammern, später Alkohol trinken und auch Drogen nehmen oder jetzt seit kurzem dein Geschlecht jährlich ändern, mal „austragender“ Elternteil, mal „eintragender“
Elternteil werden, um zeitweise dem Frust zu entfliehen, aber mehr auch nicht. Du lernst nicht, um zu lernen, sondern um ein Zertifikat zu kriegen. Und wenn du Probleme bekommst, tun zwar viele so, als würden sie dir helfen wollen, aber in Wirklichkeit wird sich keiner um dich kümmern, weil niemand einen blassen Schimmer davon hat, was in dir los ist, warum du trinkst, wieso du Drogen nimmst, was dich dazu führt, aggressiv zu sein. Solche Dinge interessieren kaum jemanden. Was aber wichtig ist und auf dem Plan steht, ist, dass die Probleme hauptsächlich auf der Oberfläche behandelt werden dürfen und auf gar keinen Fall an der Wurzel. Deswegen vermehren sie sich auch ständig, anstatt sich zu verringern.

Hauptsache du funktionierst, machst eine Ausbildung, verdienst Geld, glänzt mit einem Titel und wirst etwas, was du vielleicht nie sein wolltest. Aber auch das ist nicht wichtig, denn du weißt eh nicht, was du sein wolltest. Du folgst nur unbewusst einem Muster.
Nach der Schule musst du eine Ausbildung machen oder studieren, was willst du auch sonst tun? Du brauchst einen Abschluss. Du brauchst einen Job. Du brauchst Geld. Du brauchst Versicherungen. Du brauchst einen Handyvertrag. Du brauchst schnelles Internet. Du brauchst eine Riesterrente und ein Bausparkonto. Du brauchst ein Auto. Du brauchst ein Haus. Du brauchst einen Flachbildschirm. Jetzt brauchst du noch schnelleres Internet. Du brauchst noch mehr Geld. Du brauchst Freunde. Du brauchst eine Frau/einen Mann, Familie, Kinder. Und jetzt brauchst du noch mehr Geld …
So wird es dir gesagt.
Und reisen darfst du auch, aber erst, wenn du in der Rente bist, falls du überhaupt so alt wirst und noch körperlich einigermaßen funktionierst. Davor hast du vielleicht Geld, aber keine Zeit.

Unter allen Lektionen, die ich in meinem bisherigen Leben zu lernen hatte, war das Vertrauen das Allerschwierigste. Wir suchen ständig und verzweifelt nach Sicherheit und nach etwas, woran wir festhalten können und haben Angst davor, Fehler zu machen oder zu versagen:
noch mehr Risterenten, noch mehr Versicherungen, noch mehr Bausparkonten, noch mehr Verträge, noch mehr Sicherheit und Regeln und Gesetze. Für alles gibt es Experten, Studien, Professoren, Berater und Gurus, Vorschriften und Einleitungen, soweit das Auge reicht, so dass wir nicht mehr wir selbst sein und frei denken können. Hauptsache, jemand anders übernimmt das Denken für uns.

Und sobald wir uns einmal von der „geraden Linie“ etwas wegbewegen und neue Erfahrungen machen, fallen wir in die Abnormalität oder in eine der unzähligen Schubladen psychischer Krankheiten. Das ist eine Fabrik, die Menschen formt. Wie kann da noch von „Individualität“ die Rede sein? Sind wir wirklich so frei, wie es uns gesagt wird?
Diese Frage sollten wir uns alle dringend stellen. Die wahre Freiheit beginnt in unserem Inneren.

Nachdem uns ein genaues Bild von dem „perfekten Menschen“ gegeben wurde, der erfolgreich, vermögend, gut aussehend, gut gebaut, studiert, betitelt, fehlerfrei, mit Botox aufgepumpt, tonnenweise Make-up im Gesicht, faltenfrei, orangenhautlos, immer lachend und depressionsfrei ist, seine Emotionen unter Kontrolle hat, am besten glücklich verheiratet und nie geschieden, arbeiten wir an unserem Umfeld und spritzen das Gemüse und Obst mit Hormonen, damit sie mindestens so schön und perfekt sind wie wir selbst, wenn sie die Ehre haben wollen, von uns gegessen zu werden.

Dann bringen wir die Hunde zu Beauty-Salons, Hundepsychologen und Schulen, damit auch sie sich bilden und endlich lernen, sich wie ein perfekter Mensch zu benehmen. Im Kreis Waldorf gibt es eine Ausgangssperre für die unerzogenen Katzen, die sich die Frechheit erlauben, die Vögel zu jagen. Aber Windräder sind gestattet. Das kannst du dir nicht ausdenken! Mittlerweile ist nicht einmal den Pflanzen und Tieren erlaubt, sie selbst zu sein, geschweige denn den Menschen. Ganz ehrlich: Wo soll das hinführen?
Das alles ist ein signifikantes Zeichen für den Zweifel an uns selbst, am Leben im Allgemeinen, an der Natur und deren Intelligenz sowie an den Wegen des Überlebens.

Das Vertrauen in uns selbst. Wann und wie ist es uns „verlorengegangen“? Es ist doch eigentlich das Einzige, das uns keiner nehmen kann. Es hilft uns, die Hoffnung auch in finstersten Tagen nicht zu verlieren, dem Klang unseres Herzens und unseren Träumen zu folgen.
Wo es kein Vertrauen gibt, entsteht eine Lücke, die mit Ängsten gefüllt wird, die uns manipulierbar und kontrollierbar machen: in der kleinen wie in der großen Gesellschaft. In einer Welt voller Lügen und Heuchelei gibt es nur eine Stimme, die nicht lügt: unsere innere Stimme.

Und manchmal, wenn wir wieder einmal eine schwere Phase durchmachen, hilft es uns vielleicht, uns daran zu erinnern, dass das Leben nichts weiter als ein Buch ist, das aus mehreren Kapiteln besteht. Manche Kapitel sind länger oder dunkler als die anderen, aber sie alle enden eines Tages und jedes Ende ist ein Neuanfang. Wichtig ist, dass wir aus jedem Zyklus etwas ernten, Süßes wie Saures.

Heidelberg, Deutschland
Montag, 29. April 2019

EINLEITUNG
Mit dem Schreiben dieses Buches begann ich im Mai 2016 auf Bali. Etwa einen Monat später, ich war inzwischen in Christchurch, Neuseeland, angekommen, telefonierte ich mit meinem Vater.
„Wie wird dein Buch heißen?“, fragte er mich.
„Das kleine, schwarze Schaf.“
Er schien überrascht. „Warum Schaf? Und wieso schwarz? Du bist doch so bunt!“
Ich bemerkte, dass mein Vater den Begriff Schwarzes Schaf nicht kannte und klärte ihn auf.
Er lachte. „Ach, so! Du meinst der kleine, schwarze Fisch! Ja, das passt ganz und gar zu dir; du bist einer!“
Dieses Mal war ich diejenige, die auf dem Schlauch stand und bat ihn um Aufklärung.
Mein Vater erklärte mir: „Schwarze Fische nennt man Menschen, die ihren eigenen Kopf haben und gegen den Strom schwimmen.“
„Fisch hört sich sehr viel niedlicher an als Schaf … Danke für die Idee! So werde ich das Buch nennen: der kleine, schwarze Fisch!“
Er lachte wieder: „Das gibt es aber bereits. Es ist ein Kindermärchen. Lies es!“
Im Anschluss an unser Telefonat setzte ich mich gleich an den Computer, suchte nach jenem Werk und wurde fündig. Während ich es las, rollten mir Tränen die Wangen hinunter: Papa hatte Recht gehabt. Das war meine Geschichte! Da der Titel bereits vergeben war und ich den
kleinen, schwarzen Fisch aus jenem Buch auch viel mutiger und weiser fand als mich selbst, beschloss ich, das Diminutiv zu verwenden.

Im April 2019 war das Buch im Großen und Ganzen vollendet. Ich bin ein experimentier-freudiger Mensch, der gerne Risiken eingeht und schaut, was passiert. Von Theorien halte ich so gut wie gar nichts. Mein Wissen basiert auf eigenen Erfahrungen, Beobachtungen und den daraus resultierenden Erkenntnissen. Und genauso versuche ich auch in diesem Werk trockene Begriffe und Theorien praktisch wiederzugeben. Am meisten lerne ich persönlich aus jenen Versuchen, in denen ich selbst das Versuchsobjekt und der Versuchsleiter bin, so wie in diesem Buch.

An dieser Stelle könnte ich – um juristisch korrekt zu bleiben und den Verlag und mich selbst vor was auch immer kommen könnte zu schützen – natürlich jetzt so etwas schreiben, wie: „Dieses Buch ist kein Ratgeber. Nehmt euch bloß kein Beispiel an mir. Wer meinen Weg geht
und im Niemandsland landet, wird nicht belohnt, sondern bestraft. Niemand sollte den Weg eines anderen gehen, sich zwar von anderen Menschen inspirieren lassen, aber seinen eigenen Pfad finden und nur dem folgen.“
Auch wenn ich selbst von solchen Hinweisen gar nichts halte, aber man weiß nie! Sicher ist sicher. Auf den Coffee-To-Go-Bechern steht „Vorsicht! Heiß!“, und ich habe schon Pizzaboxen gesehen mit dem Hinweis: „Vor dem Verzehr öffnen!“
Aber seien wir mal ehrlich: Es wäre total überflüssig, so etwas anzumerken! Ich brauche ja auch nicht durch die Welt zu ziehen und jeden darauf hinzuweisen, das er – zum Beispiel – ein Gehirn zum Denken und ein Herz zum Fühlen hat. Das weiß doch jeder … Oder? Genauso setze ich auch voraus, dass meine Leser wissen, dass jeder alleinig die Verantwortung für sein eigenes Leben trägt. Und wer nicht weiß, dass man die Pizzabox vor dem Verzehr zu öffnen hat, kann dieses Buch ja gar nicht lesen, denn nirgends steht: „Vor dem Lesen öffnen!“

Bevor du nun also beginnst, in diese Geschichte einzutauchen, möchte ich dir aber zwei Dinge ans Herz legen:

1. Dieses Buch wurde mit gutem Wissen und Gewissen erlebt, gedacht, gefühlt, geschrieben, lektoriert und korekturgelesen, dennoch wird es nicht fehlerfrei sein. Wer einen Fehler findet, darf ihn gerne behalten. Tagtäglich werden wir darauf trainiert, mit einem roten Stift in die Welt zu gehen, die Fehler unserer Mitmenschen zu unterstreichen und zu melden, uns darüber ärgern oder zu freuen, dass wir besser sind, als die „Fehlerhaften“. Von diesem gesellschaftlichen Trend möchte ich mich mit diesem Buch distanzieren. Denn er ist aus meiner Sicht nichts weiter, als eine Ablenkung von unseren eigenen Macken. Ich selbst bin nicht perfekt und mein Buch darf keine Ausnahme von mir selbst sein. Während die halbe Weltbevölkerung sich damit vergnügt, Dinge in richtig und falsch oder gut und böse zu kategorisieren, beschäftigt mich eher die Frage, was, wenn alles ist, was es ist?

2. Mit Gendern kann man mich jagen! Auch dieser gesellschaftlichen Manie drehe ich den Rücken zu. Wenn ich von „Menschen“ spreche, fühlt sich niemand aus der Gruppe der Menschheit ausgeschlossen. Obwohl der Begriff „Mensch“ grammatisch maskulin ist, kenne ich keine Frau, die behaupten würde, sie sei kein Mensch, weil sie feminin ist. Sobald ich aber die Hauptgruppe „Menschen“ in Männer und Frauen, Leser und Leserinnen, Studenten und Studentinnen, Lehrer und Lehrerinnen etc. teile, sorge ich für Spaltung. In einem Gesangkurs für Frauen sind Männer genausowenig erwünscht, wie Frauen in einem Kochkurs für männliche Wesen. Oder wenn ich sage: „Männer können nicht zuhören“, fühlen sich Frauen nicht mehr angesprochen und bleiben in der Illusion, zuhören zu können. Dasselbe gilt für die Aussage „Frauen können nicht einparken“. Da Männer keine Frauen sind, fühlen sie sich nicht angesprochen und bilden sich ein, einparken zu können. So entstehen ungültige geschlechts-bezogene Glaubenssätze. Da ich das Lesen von „der/die LeserIn“, „Liebe Hörer*Innen“ zudem ziemlich lästig finde und meinen Lesern diese Anstrengung gerne ersparen will, verzichte ich in meinem Leben und damit auch in diesem Werk auf das Gendern. Da ich unabhängig von meinem biologischen Geschlecht ein Mensch bin und damit grammatisch maskulin, spreche ich in diesem Buch gelegentlich sogar von mir selbst in männlicher Form.

Ach ja, und Deutsch habe ich übrigens in Deutschland und hauptsächlich von deutsch-sprachigen Menschen gelernt. Folgende Geschichte werde ich nie vergessen: Ich saß im Chemieunterricht in der elften Klasse und es regnete. „Es pisst schon wieder wie die Sau!“, sagte eine Mitschülerin. Der Chemielehrer handelte sofort, um seinen pädagogischen Aufgaben gerecht zu werden. „Sag das nicht! Sara ist gerade dabei, Deutsch zu lernen. Wir sollten ihr schöne Begriffe beibringen“, sagte er zu der Mitschülerin und wandte sich an mich: „Sie meinte, dass es regnet. Vergiss das andere wieder!“

Doch es war bereits zu spät. Für chemische Formeln gab es nie genug Kapazität in meinem Kopf, aber „lustige“ Worte wurden sofort aufgenommen und gespeichert: einmal gehört, für immer da. Danach lernte ich, dass der „Lümmeltag“ nichts mit „Lümmel“ zu tun hat und dass ein Megaphone nicht ein mega Phone (ein geiles Telefon) bedeutet. So wurde ich Stück für Stück eingedeutscht. Das Ergebnis lässt sich in diesem Buch nicht verheimlichen. Was reingeht, muss auch eines Tages wieder rauskommen. Daher entschuldige ich mich an dieser Stelle im Voraus für den einen oder anderen unliterarischen Begriff, der in manchen der
folgenden Sequenzen verwendet wird. Da ich in diesem Buch unter anderem aus meiner dunklen Nacht der Seele berichte, konnte auch ich dem Trend der Zeit lange nichts in mir Gereiftes entgegensetzen.

Doch die deutsche Krone wurde mir erst nach meinem intensiven Integrationsprogramm zwischen München und Köln aufgesetzt – in Sachen „Integrieren“ war ich immer eine Eins, nicht nur im Matheunterricht. Es war eine sehr harte Zeit für mich, muss ich gestehen. Ich
habe mich richtig ins Zeug gelegt, um mir die „Krone“ auch ehrlich zu verdienen. Hierfür stand ich für geraume Zeit mit einem Fuß – an jenen frischen Herbsttagen in einem Dirndl – auf der Münchner Wiesn und musste ein Maß Bier nach dem anderen trinken. Und mit dem anderen Fuß stand ich – an bitterkalten Wintertagen als Edelprostituierte verkleidet – auf dem Kölner Karneval und musste alle möglichen Alkoholsorten – miteinander, nacheinander und durcheinander – hinunterkippen und Lieder auswendig lernen. Jan Pilleman Otze gehörte
zu meinen Lieblingsliedern. Das waren Zeiten! Danach meldeten sich die deutschen Behörden bei mir: Sehr geehrte Frau Sadeghi! Anbei Ihr deutscher Pass. Sie haben sich erfolgreich und mehr als genug integriert. Hören Sie jetzt bitte damit auf. Später im Leben habe ich „Deutsche“ getroffen, die noch nie auf dem Oktoberfest oder Kölner Karneval gewesen waren und Jan Pilleman Otze gar nicht kannten. Das war ein großer Kulturschock für mich. Ob sie sich wohl den deutschen Pass verdient haben?

„Ist das wahr“, fragt sich vielleicht der eine oder andere Leser an dieser Stelle. „Hat sie etwa einen deutschen Pass bekommen, weil sie auf dem Oktoberfest und dem Kölner Karneval antanzte?“
Wahrheit hat wie alles andere auf dieser Welt verschiedene Gesichter, ist subjektiv und eine Frage der Perspektive. Im vorliegenden Werk berichte ich aus jenem Gesicht, das sich mir zeigte, aber vor allem auch das, was ich daraus für mich gezogen und gelernt habe. Die Beteiligten haben womöglich eine andere Sicht auf die jeweiligen Ereignisse. Um die Identität und Privatsphäre der Betreffenden zu schützen, wurden manche Namen im Buch geändert.
Um einen Teil meiner Erkenntnisse und des Gelernten weiterzugeben, bitte ich meine lieben Leser darum, einen Stift zur Hand zu nehmen und jedesmal, wenn sie etwas lesen und ein Urteil fällen, eine kleine Markierung am Rand zu machen. Zum Schluss, wenn das Buch
zu Ende gelesen wurde, bitte ich sie darum, die markierten Stellen zu überprüfen und zu überlegen, inwiefern ihr altes Urteil gerecht war. Auf diese Weise möge dieses Buch zu einer neuen Erfahrung werden: anstatt nach den „Fehlern“ anderer zu suchen, einen Blick auf und in sich selbst zu werfen. Meine Intention beim Erzählen ist nicht, irgendjemanden in ein schlechtes Licht zu stellen, sondern Zusammenhänge aufzudecken, die in uns selbst nach Heilung und Integration rufen.

Ein angenehmes Lesen.

(Zusatzbemerkung: In diesem Werk und in der Übersetzung der Rumi-Gedichte werden die Begriffe „Liebhaber“ und „Geliebte“ in ihrer Kernbedeutung verwendet. Liebhaber: ein Mensch, der liebt. Geliebte(r): ein Mensch, der geliebt wird.)

ISBN: 978-3-949143-15-1
Verlag: AndreBuchVerlag

Sara Sadeghi
Coaching & Energiearbeit
http://www.sara-sadeghi-coaching-energiearbeit.de